lhasa_de_selaMitten in der Nacht klettere ich oft mit der Fernbedienung die Fernsehprogramme rauf und runter. Ich kann mich selten ins Bett legen und einfach einschlafen. Das ist ziemlich blöde, denn am Morgen muss ich wegen der Kids schon weit vor sieben Uhr aufstehen. Spät nachts läuft eigentlich nur Schrott, doch manchmal bieten desperate Kanäle Perlen. Vor einiger Zeit blieb ich bei einem französischsprachigen Sender hängen, der sich gerade mit einem Musikthema beschäftigte.

Interviewt wurde eine junge Sängerin, deren Habitus mich an die siebziger Jahre erinnerte. Sie war klein und nur bedingt hübsch, hatte strähniges langes Haar mit Mittelscheitel und ein etwas zu spitzes Gesicht. Während des Gesprächs wirkte sie irgendwie fahrig, machte dazu mit gespreizten Fingern weitläufige Bewegungen. Der Typ junge Frau wirkte wie aus einer Wohngemeinschaft der damaligen Zeit entlaufen - etwas intellektuell, etwas flippig, mit Nikotin gelben Fingern fuchtelnd und immer leicht verpennt. So eine, die am WG-Frühstückstisch beiläufig erzählt, dass sie am gestrigen Abend einen richtigen Schäfer kennen gelernt und sich gleich in den verliebt hätte. Und jetzt das Filosofiestudium sausen lassen und stattdessen Schafe über die Schwäbische Alb treiben wolle.

Doch dann ging es ans Singen und mit dem Mikrofon in der Hand verwandelte sich die WG-Bewohnerin in eine Katze. Nichts an ihr war mehr fahrig oder linkisch, jetzt wirkte sie hellwach und präsent. Ihr Körper spannte sich, der Rücken krümmte sich wie zum Sprung und mit gleitenden Bewegungen sang sie ins Mikrophon. Ihre Stimme war präzise und weich, nichts war gekünstelt oder inszeniert. Da sang keine verhuschte WG-Bewohnerin mehr, sondern eine Frau die kämpfen kann. Die Wurzeln ihrer Musik kamen mal aus der mexikanischen Volksmusik, mal aus dem französischen Chanson oder dem amerikanischen Folk - immer genau auszumachen war das nicht. Genau so wenig wie man bei dem Live-Konzert sofort sagen konnte, in welcher Sprache sie jetzt eigentlich sang.

Lhasa - La Marée Haute & Interview

 

Inzwischen kann ich Musik ganz gut katalogisieren - kann Kunst von künstlich unterscheiden, kurz - kann sagen was gut oder nur Mittelmaß ist. Das was jene unscheinbare Frau im Fernsehen darbot, war etwas vom Besten, was ich seit langer Zeit gehört hatte - poetisch und musikalisch. Ein wildes Gemisch verschiedener Kulturen und Sprachen, ganz selbstverständlich hintereinander gereiht, so als ob Frankreich direkt an Mexiko grenzen würde - von der Sängerin zu einer eigenen Kunstform erhoben. Über all der Singerei lag eine tiefe Melancholie, wie man sie aus der Tradition der mexikanischen Mariachi-Musik kennt. Ein Kritiker aus der „Zeit" hat dazu geschrieben: „Ihre Stimme klingt so, als hätte sie zuvor fünf Stunden lang am Stück geweint. Und dann beschlossen, von nun an nie wieder zu weinen."

Lhasa de Sela - De cara a la pared

Dass solche schnellen Eindrücke stimmig sein können, habe ich erst Tage später erfahren. Lhasa de Sela ist eine Tochter unserer Generation - genauer eine Hippie-Tochter, deren Eltern in einem umgebauten Schulbus ständig zwischen Mexiko und New York pendelten. Der mexikanische Vater lehrte in New York an der Uni spanische Literatur, die Mutter ist Amerikanerin und arbeitete als Fotografin. Irgendwo unterwegs in einem kleinen amerikanischen Kaff wurde Lhasa im Jahr 1972 als dritte von vier Töchtern geboren. Die Familie war ständig unterwegs, die Kinder wuchsen mit Büchern und Briefeschreiben auf, Fernsehen war verboten. Und diese Rastlosigkeit setzte sich bis heute fort - Anfang dieses Jahrtausends schloss sie sich ihren Schwestern an, die mit einem Zirkus- und Theaterprojekt durch Frankreich tourten. Inzwischen lebt sie wieder in Kanada und arbeitet in Montreal an einem neuen Album, das demnächst erscheinen soll.

Wer noch ein paar Songs von Lhasa de Sela hören möchte,  für den habe ich ein paar ausgewählte Youtube-Videos zusammengestellt.

Lhasa de Sela - Con toda palabra



Lhasa De Sela -Neapel 2005 - La Frontera


Lhasa de Sela singt Leonard Cohen - Who by Fire


Lhasa de Sela / Small Song

 

Diskografie:

La Llorona // 1998

Titel Komponist Dauer
1 De Cara a La Pared (Face to the Wall) De Sela, DeSela, Desrosiers 4:15
2 La Celestina (Celestina) DeSela, Desrosiers, Lhasa 4:47
3 El Desierto (The Desert) De Sela, DeSela, Desrosiers 3:53
4 Por Eso Me Quedo (That's Why I'm Staying) De Sela, DeSela, Desrosiers 3:51
5 El Payande (The Payande) Traditional 3:31
6 Los Peces (The Fish) Traditional 3:52
7 Floricanto (Floricanto) DeSela, Desrosiers, Sela 4:09
8 Desdeñosa (Disdainful) DeSela, Desrosiers 4:34
9 El Pájaro (The Bird) DeSela, Desrosiers 3:58
10 Mi Vanidad (My Vanity) De Sela, DeSela, Desrosiers 4:13
11 El Arbol del Olvido (The Tree of Forgetfulness) Argentina, Ricordi, Valdez ... 3:11

 

The Living Road // 2003

Titel Komponist Dauer
1 Con Toda Palabra Desrosiers, Lhasa, Ségal 4:30
2 La Marée Haute Lhasa, Malek 3:24
3 Anywhere on This Road Lhasa 4:37
4 Abro la Ventana Desrosiers, Lhasa 4:03
5 J'Arrive À la Ville Lhasa 5:58
6 La Frontera Lhasa 3:02
7 La Confession Desrosiers, Dumontier ... 3:45
8 Small Song Lhasa 2:26
9 My Name Lapierre, Lhasa, Ségal 4:17
10 Pa'Llegar a Tu Lado Lhasa 4:32
11 Para el Fin del Mundo O el Año Nuevo Lhasa 4:23
12 Soon This Space Will Be Too Small Lhasa 4:46