Ende der fünfziger Jahre bewegte sich das Repertoire der Jazzgrößen auf einem Niveau, das vor allem bezüglich des harmonischen Grundgesrüsts kaum noch Spielraum aufwies. Mit immer komplizierteren Harmoniefolgen forderten sie ihr improvisatorisches Talent und ihren musikalischen Intellekt heraus. Eines der bekanntesten Beispiele ist die Coltrane-Komposition "Giant Steps", aufgenommen 1959, die auf dermaßen vertrackten Harmoniefolgen basiert, dass selbst erfahrene Musiker kaum in der Lage sind, halbwegs passabel darüber zu improvisieren. (Zeichnung: furibond)
In dieser Situation kommt Coltrane mit Miles Davis ersten Schritten in Richtung modaler Improvisation in Kontakt. Coltrane gehört zu der phantastisch besetzten Band, mit der Miles Davis im Frühjahr 1959 das legendäre Album "Kind of Blue" aufnimmt. In Klassikern wie "So What" oder "All Blues" testen die Musiker erstmals das modale Konzept, das mit sehr wenigen Harmoniewechseln auskommt und sich stattdessen auf Skalen (Tonleitern) konzentriert.
Die Bedeutung, die "Kind of Blue" zukommt, wird nicht zuletzt durch die jüngste Veröffentlichung gleich zweier Bücher unterstrichen, die sich ausschließlich mit der Entstehungsgeschichte des Albums beschäftigen. Was auf den ersten Blick wie ein musikalischer Rückschritt aussieht, ermöglicht den Musikern in Wirklichkeit eine wesentlich größere Freiheit. Vom engen Korsett der "funktionsharmonischen" Grundlage befreit, gelingt ihnen eine größe Konzentration auf die melodiösen Aspekte des Spiels. Dass diese neue Stilistik nicht weniger intellektuell anspruchsvoll ist als die Improvisation über ständig wechselnde Harmonien, hat nicht zuletzt John Coltrane mit seinen Aufnahmen in den frühen sechziger Jahren gezeigt. Er hat nicht nur arabische, indische oder spanische Elemente in sein Spiel integriert, sondern auch das Erbe der klassischen Avantgarde für den Jazz entdeckt.
Musikwissenschaftler haben in Coltranes Musik zahlreiche Parallelen zu Bela Bartoks komplexen Harmoniewelten oder Arnold Schönbergs Zwölftonmusik aufgewiesen. Zum weithin gehörten Fanal für Coltranes neuen Stil wird die 1960 aufgenommene Platte "My Favorite Things". Auf dem gleichnamigen Titelstück setzt er nicht nur zum ersten Mal ein Sopran-Saxophon ein, sondern zeigt auch auf beeindruckende Weise die Möglichkeiten der modalen Improvisation auf. Mit "My Favorite Things" erobert sich Coltrane schlagartig den Jazz-Thron. Und er wird ihn bis zu seinem Tod 1967 nicht mehr abgeben.
Mit weiteren bahnbrechenden Veröffentlichungen wie "Impressions" und seiner vielleicht wichtigsten Platte, "A Love Supreme", beeinflusst er eine ganze Generation junger, experimentierfreudiger Musiker, die - vom Zeitgeist mitgetragen - bis zum Ende des Jahrzehnts sämtliche Konventionen des Jazz hinter sich gelassen haben werden.
Auch wenn Coltrane den Weg zum Free Jazz nicht bis zum Ende mitgegangen ist, so gilt er doch zurecht als sein wichtigster Vorbereiter. Coltranes direkter Einfluss auf die Entwicklung des Jazz geht jedoch über die kurze Blüte des "New Thing" oder Free Jazz Ende der sechziger Jahre hinaus. Zahlreiche Musiker, die zu Beginn der siebziger Jahre den Stilwechsel zum Jazz-Rock vollziehen, beziehen sich ebenfalls direkt oder indirekt auf die Coltraneschen Wurzeln. Wiederum vom Zeitgeist beeinflusst, begeben sich nicht wenige auch auf eine Suche nach Spiritualität - und nachvollziehen damit eine Entwicklung, die Coltrane schon 1957 vorgemacht hatte und die schließlich (auf "A Love Supreme") zu einer engen Verquickung von Glaube und Musik führte.
Die musikalischen Entwicklungen eines Devadip Carlos Santana oder eines Mahavishnu Orchestra wären ohne das Vorbild John Coltranes nicht denkbar. Und so ist es nur konsequent, dass sich zahlreiche Musiker bis heute in gläubiger Hingabe auf ihren "Saint John Coltrane" beziehen. "My Favorite Things" ist eigentlich immer noch meine LieblingsCD von John Coltrane. Besonders ist die Scheibe an lauen Sommerabenden zu empfehlen.